Gedanken zur Skulptur von Kirsten Ortwed

Troels Wörsel

  • Blick in die Ausstellung Kirsten Ortwed: Skulpturen, Bozzetti, Arbeiten auf Papier im Juni 2014 in unseren Räumen in der Maximilianstraße 10
    FOTO: Walter Bayer, München

Zehn Jahre lang hatte Kirsten Ortwed bis vor Kurzem ein Atelier in der Nähe unserer Wohnung. Ich bin dort oft vorbeigekommen und wurde jedes Mal von derselben Wahrnehmung erfasst, oder besser gesagt, wohl eher von einem Gefühl, das der Wahrnehmung entsprang.

Insofern es sich bloß um ein Gefühl handelte, ist es schwierig zu beschreiben. Trotzdem musste ich immer wieder über den Gehalt dieser Wahrnehmung nachdenken. Es waren flüchtige Gedanken, nicht sehr ergiebig, die sich mit der Zeit aber summierten.

Zurückschauend ist mir klar geworden, dass ich beim Betrachten von Kirsten Ortweds Skulpturen in der Arbeitsphase der Tonfassung ein Bild von Anders Zorn im Hinterkopf hatte – das Selbstporträt, das er für die Uffizien malte. Eine Atelierszene mit der Tonbüste seiner Frau links im Vordergrund, vom Bildrand beschnitten. Der modellierte Ton ist wunderbar gemalt: Es ist Zorn gelungen, Malweise und dargestellte Modellierung quasi zur Deckung zu bringen.

Für sich sind die einzelnen Teile der Porträtbüste (Hut, Frisur, Pelzkragen) nicht explizit darstellend, ihre Darstellung ergibt sich aus dem Ganzem. Aber im Bild sind die Einzelteile darstellend, einfach deshalb, weil sie gemalt sind, und das auf eine Art und Weise, bei der der Duktus der dargestellten Modellierung entspricht.

Das, was ich in Kirsten Ortweds Atelier immer wieder erlebt habe, ist etwas Ähnliches. Ihre Arbeiten sind,
wie man sagt, abstrakt, lassen sich aber weder auf Form noch Material reduzieren. Sie sind nicht darstellend, reichen aber über ihre rein physischen Eigenschaften hinaus. Wie Zorns Bild sozusagen einen Schleier von Wahrnehmung über die reale Skulptur breitet, sind Kirsten Ortweds Arbeiten beim Anschauen wie von einer Raumschicht umgeben, einer von der Modellierung modellierten Schicht, die so eine Beschreibung der
Skulptur – dem Gesehenen – liefert.

Eine Skulptur von Kirsten Ortwed entsteht als eine schrittweise Folge von Wahrnehmungen und deren Veränderungen, und in diesem Sinn könnte man auch sagen, sie errichtet (im Raum) einen Spiegel, in dem sich die Wahrnehmung selbst erblickt.

Ich will mich hier mit dem Erlebten begnügen und es nicht theoretisch breittreten, obwohl es noch viele Pointen gäbe. Aber vielleicht ist damit angedeutet, wo die Quelle der ungeheuren Lebendigkeit von Kirsten Ortweds Skulptur zu verorten ist – eine Lebendigkeit, ohne die ein Kunstwerk nichts ist.

Dies führt mich zu einem anderen Einfallswinkel, auf den ich bis vor kurzem noch nicht aufmerksam war, und den ich in den Schriften von Frank Stella entdeckte. Stella befasst sich in mehreren Artikeln mit Phänomenen der neueren Kunst und bemängelt, was er deren „Buchstäblichkeit“ nennt. Damit meint er Kunstwerke, die sich prinzipiell nicht von Alltagsgegenständen unterscheiden und die gleichen Funktionsmuster wie diese benutzen, also Kunst – so beschreibt er die Situation – die nicht länger in einem illusionistischen Raum stattfindet, die nicht versucht, über sich hinauszureichen, bei der sich ästhetische Qualität in Design erschöpft und für die „Grandeur“ ein Fremdwort ist.

Ich meine, einige der Begriffe, die Stella benutzt, ließen sich durch genauere Analyse präzisieren, aber das, was er gesehen hat, hat er richtig gesehen. Ich würde zum Beispiel, um es kurz anzudeuten, sagen, dass wir es mit einer Abkehr vom semantischen Raum, in dem sogar abstrakte Kunst wie die von Stella stattgefunden hat, zu tun haben. Und ich glaube, dass dies mit dem Aufkommen des Computers zu tun hat, da er ein Rahmen ist, der allem Bedeutung verleiht, und umgekehrt aller Inhalt ohne dieses „zu Hause“ zu bloßem Material wird und deshalb, wie Stella sagt, buchstäblich.

Es entsteht eine Kunst, die von den bedeutungsgebenden Systemen, derer sie sich bedient (Technologie, Kunstbetrieb, Popkultur usw.), so überwältigt ist, dass sie, ohne es zu merken, von vornherein die Waffen streckt. Es ist eine armselige Art Kunst zu machen – als begnüge man sich mit Kicken, wo doch auch die Möglichkeit besteht, Fußball zu spielen.

Hier liegt die heutige Bedeutung von Kirsten Ortwed: Sie zeigt, dass es auch anders geht, dass es möglich ist Kunst zu machen, indem man ständig von neuem alles selbst erfindet. Das ist zwar schwierig, aber deshalb umso wichtiger. Denn lohnt es überhaupt, sich mit Kunst zu befassen, die nicht von Erfindungs- und Einfallsreichtum getragen wird? Keine Kunst „sagt“ so viel über sich selbst wie die von Hand gestaltete, weil nur sie es ist, die ablesbar ungelungen sein kann. Denn nur wo Fehler möglich sind, kann wiederum auch etwas „richtig“ sein.

Ich habe mal geschrieben, ein Bild sei eine Skizze für ein Bild – für genau das Bild, das es ist. Für Skulptur dürfte das auch gelten, denn mit einer Skulptur sagt der Künstler: „So muss dieses Problem gelöst – oder besser: formuliert – werden.“ Dies macht die grundliegende Bedeutung in der Kunst aus, und je schärfer dies zu Tage kommt, desto interessanter ist sie als Kunst. Eben dieses Anliegen ist der buchstäblichen Kunst fremd.

Dass Kunst ein Entwurf für sich selbst ist, ist grundsätzlich das, was ihre Eigenschaft, bedeutungstragend zu sein, bestimmt und ihren semantischen Raum erzeugt. Deswegen ist Kirsten Ortweds Arbeit im Vergleich zum zeitgenösssischen Mainstream radikal: Sie gestaltet nicht einfach einen Gegenstand im Raum, sondern baut den Raum, den dieser ausfüllt oder verdrängt, so auf, bis die dadurch geschaffene semantische Reichweite ihn selbst umfasst. In einem Text, Lenhard Holschuh, schreibt Frank Stella, wie es in der modernen Skulptur möglich wurde, im Raum zu zeichnen – dass es ihm aber gelungen sei, im Raum mit Stahl zu malen. Wenn ich nun an das Bild von Zorn denke, das in Kirsten Ortweds Atelier in mir aufflackerte, so würde ich sagen: Ihr ist es gelungen, mit Raum zu malen.